Von der Erregungssumme zum kortikalen Gleichspannungspotential. Ein Rückblick nach 100 Jahren
DOI:
https://doi.org/10.15135/2013.1.1.4-15Abstract
Sigmund Freuds zentrales Interesse galt, nachdem er im Jahre 1873 in Wien sein Medizinstudium aufgenom-men hatte, viele Jahre hindurch der Physiologie, die er am Institut von Ernst von Brücke kennenlernen konnte. Einen nachhaltigen Einfluss übten auf ihn die Ideen von Josef Breuer aus, der das Modell einer „intrazerebralen tonischen Erregung" entwickelt hatte. Ein Jahrzehnt hindurch waren die wissenschaftlichen Arbeiten Freuds ausschließlich der Neurohistologie und der klinischen Neurologie gewidmet.
Ganz unerwartet erscheint jedoch im Jahr 1894 die Arbeit: „Die Abwehrneuropsychosen. Versuch einer psycho-logischen Theorie der akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser halluzinato-rischer Psychosen". In ihr werden für die Konsequenzen von emotionalen Belastungen kühne Erklärungen ge-geben, die überhaupt nicht im Geist der bisherigen Arbeiten Freuds zu liegen scheinen. Am Ende dieser Publi-kation macht er jedoch eine bemerkenswerte Feststellung: Er habe sich einer Hilfsvorstellung bedient, der zufolge es eine „Erregungssumme" gäbe, die sich „… über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen verbreitet, etwa wie eine elektrische Ladung über die Oberflächen der Körper. Man kann diese Hypothese ... in demselben Sinne verwenden, wie es die Physiker mit der Annahme des strömenden elektrischen Fluidums tun."
Diese Annahme ist aus neuropsychologischer Sicht eine prophetische Feststellung, da wir ein Jahrhundert spä-ter tatsächlich in der Lage sind, kortikale Oberflächenpotentiale zu erfassen, die Ausdruck der lokalen Erregbar-keit und Reaktionsbereitschaft sind und der „Erregungssumme" zu entsprechen scheinen. Die vorliegende Publikation, in der die Brücke von Freud zur modernen Neurowissenschaft geschlagen wird, ist die deutsche Fassung des Vortrags „From the Sum of Excitation to the Cortical DC Potential. Looking back a Hundred Years", den ich seinerzeit auf einem an der Akademie der Wissenschaften veranstalteten Symposium gehalten habe. Es war dem neurologischen Frühwerk Freuds gewidmet und ist in Englischer Sprache in der Monographie „Freud and the Neurosciences" erschienen (Guttmann, 1998).
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