Zur blütenreichen Entfaltung des Islam in der Psychoanalyse
Erfahrungen aus der klinischen Praxis und assoziative Überlegungen
DOI:
https://doi.org/10.15136/2022.9.2.125-150Abstract
Beni bende demen, bende değilim, bir ben vardır bende, benden içeru [Sagt nicht, ich sei bei mir, ich bin nicht bei mir, ein Ich existiert bei mir, innerhalb von mir]. Dieses aus dem 13./14. Jahrhundert stammende berühmte Zitat des osmanisch-türkischen Poeten und sufistischen Mystikers Yunus Emre kann als die Manifestation der verflochtenen und latenten Kräfte zwischen Islam und Psychoanalyse verstanden werden, welche der vorliegende Artikel zu beleuchten versucht. Denn psychoanalytische Konzepte und Ansätze sind in mannigfaltigen Variationen im türkisch-muslimischen Kontext vorhanden, sofern sie auch als solche aufgespürt und gelesen werden können. Das Zitat von Yunus Emre, welches die Erfahrung islamischer Transzendenz benennt und gleichsam – aus psychoanalytischer Sicht betrachtet – das Unbewusste zu beschreiben vermag, ist ein markantes Beispiel dieser – nach Bion (2013/1962) gesprochen – „prä-konzeptionellen“ Verbindungen zwischen Psychoanalyse und Islam. Beginnend mit assoziativen Überlegungen zu diesem komplexen Themenfeld illustriert die Autorin ihre Reflexionen anhand von Erfahrungen und Beispielen aus ihrer Praxis. Eine Fallvignette einer türkisch-arabischen Patientin muslimischen Glaubens und die Nachzeichnung der Besprechung von Sequenzen aus ihrer psychoanalytischen Psychotherapie in einer Kasuistikgruppe ermöglichen Einblicke in die klinisch-interkulturelle Praxis.
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Abbildungslegenden:
Abb. 1: Frau im Çarşaf, Fotografien aus İstanbul, Ruth Wilmanns Lidz
Abb. 2: Minarett, Fotografien aus İstanbul, Ruth Wilmanns Lidz
Abb. 3: Moscheenkomplex, Fotografien aus İstanbul, Ruth Wilmanns Lidz
Abb. 4: Religiöse Familie, Fotografien aus İstanbul, Ruth Wilmanns Lidz
Abb. 5: muslimische Grabstätten, Fotografien aus İstanbul, Ruth Wilmanns Lidz